Die Serie von fünf schwarz-weiß Fotografien entfaltet ausschnitthafte, zum Teil unscharfe Ansichten eines Mannes. Für einen kurzen Moment scheinen die Fotografien ikonographisch das Bild eines gläubigen Juden beim täglichen Gebet an der Klagemauer aufzurufen: die Positionierung vor der Mauer, Körperhaltung, der Tallit (jüdischer Gebetsschal), der um den Unterarm gewickelten Tefillin (jüdischer Gebetsriemen). Doch schon im nächsten Moment wird dieses Bild in vielfältiger Weise gebrochen. Die Kopfbedeckung ist kein Tallit, sondern ein Keffiyeh (arabischer Baumwollschal) - der Tefillin erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein profaner Fahrradschlauch, der zudem keineswegs nach den Regeln der Gebetsriemen gewickelt ist. Die Mauer ist ganz offensichtlich nicht die Klagemauer, sondern eine beliebige, mit Graffiti besprühte Wand und in der Hand ruht kein Gebetsbuch, sondern einer jener Ratgeber – How to make Love – die den „modernen Menschen“ in die „Kunst der Liebe“ einzuführen versprechen.
Wird hier der Glauben blasphemisch verspottet – oder gilt der Spott vielleicht vielmehr jener scheinbar (natur)wissenschaftlich fundierten Version der Liebe, die von triefender Moral getränkt, in Zeiten der säkularisierten Moderne zum heiligsten Gut erhoben wird? – „When the first man looked upon the first woman and was satisfied with her, that was when love began. And that was millions of years ago, if we are to believe our scientists.“ (Morris, Huge 1936, 1987; How to make Love. The Secret of Wooing and Winning the One You love, Robert Beard Verlag, S. 3)
In der Überfrachtung der zugleich schlicht und reduziert wirkenden Fotografien mit unterschiedlichsten Zeichen, Verweisen und Symbolen verweigert die Arbeit jede mögliche Antwort und stürzt Betrachter_innen statt dessen in einen Strudel der Verwirrung und Irritation, in dem jeder noch so sicher geglaubte Boden unter den Füßen wegezogen wird – high art queerer Politik.
Im Bild eines jüdischen Betenden mit Keffiyeh wird der Konflikt zwischen Palästina und Israel hochgradig komprimiert und an eine Graffiti-Mauer translokalisiert, die nirgendwo und überall stehen könnte. Hier scheint es weniger um eine Thematisierung dieses konkreten Konflikts zu gehen, als vielmehr um die Frage, wie sich dieser Konflikt an den verschiedenen Orten des überall und nirgendwo konkretisiert; um eine Aufforderungen an die Betrachter_innen sich gegenüber diesem Konflikt zu positionieren.
Und so wie verschiedene Zeichen und Symbole den ersten Ton einer Geschichte anklingen lassen, um zugleich von harmonischen und schrägen Dissonanzen durchkreuzt zu werden, wie der Ort des Geschehens merkwürdig unbestimmbar bleibt, überlagern sich in der Arbeit verschiedene Zeitschichten und –schnitte. In ihrer schwarz-weiß Ästhetik erinnern die Bilder an Schnappschüsse aus dem Alltagsleben der 1930er und 1940er Jahre – im typischen Lomo-Format der 1960er Jahre, fotografiert mit einer Lomo-Kamera, die in der Gegenwart wieder produziert wird. Der Liebes-Ratgeber, erstmals 1936 publiziert, wird in den 1980er Jahren neu verlegt und ist auch heute noch ohne Probleme im Handel erhältlich. Gegen jedes lineare Verständnis von Zeit und Fortschritt und gegen jede Ideologie des ganz Neuen entwickelt Ruvele Gelibter - or how to make love ein vielschichtiges, sich überlappendes Zeitgewebe, das vieles, aber vor allem vielleicht Eines ist: Retro.
Retro – das sich gegen die kapitalistische Logik immer neuer Moden wendet – verwebt seine Subjekte, so Kaja Silverman, in komplexe Netzwerke kultureller und historischer Referenzen ohne eine naive Referentialität zu behaupten. Die Vergangenheit, die nur durch ihre Vermittlung in der Gegenwart zugänglich ist, kann im Retro-Stil „wiedergelesen“ werden. Nicht vergangen wird Vergangenheit in gegenwärtigen Kontexten neu verknüpft, unterbrochen und zusammengesetzt und entwickelt so ihre radikalsten und transformativsten Potentiale. (Silverman, Kaja 1986: Fragments of a Fashionable Discourse, in: Tania Modleski (Hg.): Studies in Entertainment, Critical Approaches to Mass Culture. Bloomington u. Indianapolis: Indiana University Press, S. 139-152, hier S. 150f.) Im Knüpfen von Affinitäten und Verbindungen inszeniert Elianna Renner mit humorvoll heiligem Ernst liebevolle Porträtfragmente eines Lebens zwischen und an den Grenzen von Geschlechtern, Religionen und Kulturen, Leidenschaften, Sexualitäten und Begehrensformen:
Ruwele Gelibter posiert im Tzitzit-Shirt (Unterhemd mit jüdischen Gebetsfransen) vor der Mauer, gibt sich, den Arm hinter dem Kopf verschränkt, sinnlich wie Querelle in einer Fassbinder-Verfilmung, den Blicken der Kamera hin. Die Brust tätowiert, den Fahrradschlauch um den Arm gewickelt und aufgenommen in der mystifizierenden Ästhetik einer Lomo-Kamera, entfalten die Bilder eine queere Erotik, die sich eben nicht jenseits von Politik, Religion und Kultur, sondern gerade dort mit all ihren provozierenden Spannungen und Harmonien entfaltet.